„Was macht ihr denn eigentlich in der Vorschule?“
„Sitzen die Kinder jetzt auch mal ein bisschen länger am Tisch? In der Schule müssen sie ja bald ziemlich lange sitzen können!“
„Gebt ihr den Kindern auch mal Arbeitsblätter, damit sie schon einmal üben können, erste Buchstaben und Zahlen zu schreiben?
Oder spielen die Kinder etwa den ganzen Tag nur?“
Na, wer kennt’s?
Besonders ab Beginn des letzten Kitajahres fragen die Eltern der neuen Vorschulkinder immer öfter nach, was wir mit den Kindern machen, um sie bestmöglich auf die Anforderungen der Schule vorzubereiten und ihnen einen guten Schulstart zu ermöglichen.
In ihren Fragen drückt sich die Sorge aus, dass wir ihr Kind in der Kita vielleicht nicht genug auf die Schule vorbereiten. Dass es den Anforderungen der Schule vielleicht nicht gewachsen ist, wenn es nicht frühzeitig schon schulähnliche Förderangebote bekommt.
Sitzen üben, Arbeitsblätter bearbeiten, auf denen Mengen eingekreist und Ziffern zugeordnet werden sollen, erstes Schreiben, …
Viele Eltern assoziieren genau solche und ähnliche Aufgaben – Aufgaben am Tisch und mit Stift und Papier – mit einer guten Vorschulförderung.
Verwunderlich ist das eigentlich nicht, denn der Markt ist voller Vorschulhefte mit Titeln wie „Fit für die Schule“, „Vorschultraining“ oder „Erstes Rechnen“ – da liegt der Eindruck nahe, dass Vorschulkinder genau so etwas üben sollten, um „fit für die Schule“ zu sein und später keine Schwierigkeiten beim Lesen-, Schreiben und Rechnenlernen zu haben.
Doch was muss ein Kind eigentlich konkret können, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen?
Welche Teilfähigkeiten und Kompetenzen sind nötig, damit ein Kind z.B. Buchstaben und Zahlen erkennen, abspeichern und auch aufschreiben kann?
UND: Wie lassen sich diese Fähigkeiten und Kompetenzen am besten fördern?
Nehmen wir doch mal das Beispiel Lesen/Schreiben.
Unsere Schriftsprache ist eine lautbasierte Schriftsprache. Das heißt verschiedenen Buchstaben bzw. Buchstabenkombinationen (den sogenannten Graphemen) sind verschiedene Laute (Phoneme) zugeordnet.
Um die einzelnen Buchstaben unterscheiden zu können, brauchen wir erst einmal eine gute visuelle Wahrnehmung. UND Verarbeitung. Es reicht nämlich nicht, dass unsere Augen gut funktionieren! Die aufgenommenen optischen Reize müssen auch gut ans Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet werden.
Da kommen dann jede Menge Teilfähigkeiten ins Spiel:
Die visuelle Figur-Grund-Wahrnehmung zum Beispiel, ohne die es gar nicht möglich wäre, das „A“ als visuelle (Vordergrund-)Figur zu erkennen, die sich vom visuellen Hintergrund, der Buchseite/der Tafel/des Schildes… abhebt.
Oder die Wahrnehmungskonstanz, die es uns ermöglicht die prägnanten Merkmale eines „A“ zu erkennen, egal ob es in Arial, Times New Roman, Courier oder was auch immer geschrieben ist.
Oder das Erkennen der Raumlage, die z.B. total entscheidend ist, damit wir Buchstaben wie d, b, p und q oder u und n unterscheiden können (für viele Kinder zu Schulbeginn oft eine Riesenherausforderung!).
Oder die Wahrnehmung und Verarbeitung von räumlichen Beziehungen – um z.B. ein Wort wie „Blume“ in der richtigen Buchstabenreihenfolge lesen und schreiben zu können (nicht „Bulme“).
Überhaupt ist eine Sicherheit in den Raumdimensionen oben, unten, rechts und links total wichtig, um sich in der Schriftsprache orientieren zu können:
Buchstaben haben ein Oben, Unten, Rechts und Links; die Schreib- und Leserichtung der deutschen Schriftsprache verläuft von links nach rechts; zwischen Wörtern müssen Abstände eingehalten werden, und und und. Eine gute Raumorientierung ist für das Lesen und Schreiben also essentiell!
Doch nochmal zurück zur visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung:
Da kommt beim Schreiben natürlich noch die Visuomotorik hinzu.
Konkreter: die Auge-Hand-Koordination.
Denn beim Schreiben müssen die Bewegungen der Hand und der einzelnen Finger sorgsamst von den Augen und unserem visuellen System überwacht und koordiniert werden.
Man muss es sich immer wieder bewusst machen: Das Schreiben ist die feinste Koordinationsleistung des Menschen!
Um diese feinsten Bewegungen flüssig auszuführen, braucht es wiederum eine gute Körperwahrnehmung:
Das Kind muss sich in den Fingern gut spüren – und zwar über die Haut (taktile Wahrnehmung) und seine Muskeln und Gelenke (Tiefensensibilität). Denn nur wenn es sich gut spürt, kann es auch den Stift in seiner Hand gut spüren und mit einem angemessenen Druck übers Papier führen.
(Na, bestimmt kennst auch du Kinder, die den Stift wie eine Feder über das Papier schweben lassen, sodass man kaum etwas erkennen kann und wiederum andere Kinder, die fast ins Papier meißeln…).
Um gut Schreiben zu können, braucht es also nicht nur eine innere Vorstellung des Aufbaus der einzelnen Buchstaben (visuell-räumliche Kompetenz), sondern auch fein(st)motorische Fähigkeiten, die sich nur auf der Grundlage einer guten Eigenwahrnehmung entwickeln können!
Und das ist noch längst nicht alles. Schauen wir doch mal weiter:
Die Buchstaben (z.B. a, m, f,…) bzw. Buchstabenkombinationen (sch, au, ng,…) verkörpern ja ganz bestimmte Laute. Die müssen natürlich erst einmal gehört und erkannt werden.
Und da lässt sich auch die auditive Wahrnehmung und Verarbeitung in mehrere Teilfähigkeiten unterteilen:
In die auditive Figur-Grund-Wahrnehmung zum Beispiel. Damit ist das „Filtern“ von Klängen und Geräuschen gemeint, also das „Herunterpegeln“ von allem, was gerade nicht so wichtig ist.
Die Diskrimination wiederum bezeichnet das Erkennen von bestimmten Geräuschen, Klängen oder eben auch Lauten. Auch das kann für manche Kinder echt schwierig sein! Denn wie ähnlich klingen Laute wie „f“ und „w“ oder „p“ und „b“!
Es gibt noch einige Teilfähigkeiten mehr, aber die lasse ich jetzt mal weg, denn es gibt ja noch viel mehr Fähigkeitsbereiche, die auch noch wichtig sind und die ich bisher noch nicht genannt habe.
Die Merkfähigkeit zum Beispiel! Der auditive Kurzzeitspeicher ist beispielsweise total wichtig, damit das Kind sich das Wort, das es gerade schreiben will, innerlich immer wieder anhören kann – wie ein inneres Tonbandgerät, das es immer wieder zurückspulen und nochmal abspielen kann: „M – Ma – Mam – Mama“.
Den visuellen Kurzzeitspeicher braucht es, um die einzelnen grafischen Zeichen, z.B. das „A“, so lange innerlich festzuhalten (wie auf einem Polaroid-Schnappschuss), bis es das „A“ in seinem inneren Lexikon gefunden und als „A“ erkannt hat.
Im Langzeitspeicher wird das Erlernte (also z.B. der grafische Aufbau bestimmter Buchstaben und die ihnen zugeordneten Laute) langfristig im Gedächtnis verankert und später wieder abgerufen.
Damit das überhaupt möglich ist, braucht das Kind natürlich auch die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit bewusst zu steuern, damit es sich auch über eine längere Zeit konzentrieren kann. Es muss Ablenkungen widerstehen können und Impulse hemmen können.
Eine gute Selbstregulation ist aber nicht nur mit Blick auf die fürs Lesen und Schreiben nötige Konzentration wichtig. Auch insgesamt hat die Selbstregulation fürs Lesen- und Schreibenlernen eine große Bedeutung! Gerade am Anfang, wenn es dem Kind noch sehr schwer fällt:
Da wird es Frust aushalten müssen, wenn es noch nicht so gut gelingt, die vielen verschiedenen Buchstaben richtig aufs Papier zu bringen. Es wird Ausdauer und Anstrengungsbereitschaft brauchen. Und ganz besonders: die Zuversicht und das Selbstvertrauen, dass es die Herausforderung bewältigen wird.
Boah, was da alles drinsteckt im Lesen und Schreiben!
Visuelle/auditive Wahrnehmung und Verarbeitung, Raumorientierung, taktile Wahrnehmung, Tiefensensibilität, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Selbstregulation, Ausdauer, Selbstvertrauen, … Ich komme schon beim Tippen ganz außer Atem…
Und diese Auflistung ist noch nicht mal vollständig, manche Teilfähigkeiten und Kompetenzen hab ich gar nicht benannt!
Und damit mal zurück zur Ausgangsfrage:
WIE lassen sich all diese Fähigkeiten und Kompetenzen am besten fördern?
Am Tisch und mit Stift und Papier?
Oder im Spiel und in Bewegung?
Schauen wir uns doch mal ein Spiel beispielhaft an:
Was steckt alles drin in z.B. einem Spiel wie „Wasserblumen“, das ich schon einmal in einem anderen Blogartikel auf der Piratenreise-Website beschrieben habe (hier geht’s zum Blogbeitrag)?
Zuerst einmal ganz viele Teilfähigkeiten der visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung.
Um die gesuchte Form aus dem „Wasser“ zu fischen, sind nämlich z.B. visuelle Figur-Grund-Wahrnehmung, Wahrnehmungskonstanz und Auge-Hand-Koordination besonders gefordert.
Um überhaupt kombinieren zu können, welche Form ich suche (das geben ja die 3 Würfel vor), muss ich die erwürfelten Merkmale für einen Moment im Kurzzeitspeicher halten, damit sie dann miteinander kombiniert werden können. Dafür muss ich mich ganz schön konzentrieren und Ablenkungen widerstehen. Wenn ich gerade gar nicht dran bin, aber die gesuchte Form schon entdeckt habe, muss ich mich ganz schön zusammenreißen, mit der Lösung nicht herauszuplatzen und einfach auf die Form zu zeigen – das braucht Impulskontrolle und Selbstregulation. Und ich könnte noch viel mehr aufzählen…
Das gleiche kann man mit jedem beliebigen Spiel machen:
Was steckt eigentlich drin in „Mensch ärgere dich nicht?“, „Feuer, Wasser, Sturm“ oder im Bauen eines Turms aus Joghurtbechern?
Jede Menge Fähigkeiten, die für das Lernen in der Schule wichtig sind!
Klar, manche Kinder haben einfach Lust auf Vorschulblätter – die sollten wir auch nicht bremsen!
Ich glaube allerdings, dass das so ist, weil auch sie Arbeitsblätter mit Schule assoziieren und schon „groß“ sein wollen.
Und weil sie erleben, dass viele Erwachsene (häufig insbesondere die Eltern) auf solche Beschäftigungen oft mit einer besonderen Aufmerksamkeit reagieren, während sie zu ihrem täglichen Spielen weniger vergleichbares Feedback bekommen.
Ich bin überzeugt, dass die Kinder durch ihr freies Spielen und Bewegen schon viele der genannten Basisfähigkeiten trainieren!
Und dass wir sie zugleich durch gezielte Spiel- und Bewegungsangebote zusätzlich stärken können und sollten – insbesondere wenn wir in einzelnen Bereichen Unterstützungsbedarf beobachten.
Darum lohnt es sich aus meiner Sicht total, sich immer wieder die Frage zu stellen:
Was brauchen Kinder, damit der Übergang von der Kita in die Schule gut gelingt?
Welche Fähigkeiten sind wichtig, damit die Kinder gut in der Schule klarkommen?
Und dann diese Fähigkeiten gezielt zu unterstützen, und zwar abseits von Stift und Papier, sondern spielerisch und in Bewegung.
PS: Kennst du schon unseren Vorschul-Kalender? Darin widmen wir uns jeden Monat einem Fähigkeitsbereich aus unserem „Haus der Schulfähigkeit“, das wichtige Basisfähigkeiten für das Lesen, Schreiben und Rechnen und die Schule überhaupt beinhaltet.
Der Vorschul-Kalender ist Teil unserer digitalen Schatzkiste.
Mehr Infos zur Schatzkiste findest du hier:
Suchst du noch mehr Argumente für ein spielerisches Lernen in Bewegung? In unserer allerersten Podcast-Folge haben wir über unser Lieblingsthema gesprochen und geben dir 3 Gründe für ein Lernen in Bewegung. Hier kannst du sie dir anhören (klicke hier).
Noch mehr Input zum Thema Lernen in Bewegung und Vorschule abseits von Stift und Papier bekommst du in unserem Webinar „Wie du die Kinder auf die Schule vorbereitest, ohne stapelweise Vorschulhefte durcharbeiten zu müssen“ (Kosten: 0,- Euro und 90 min deiner Zeit). Mehr Infos und die Termine findest du hier (klicke hier).
Du möchtest tiefer einsteigen in das Thema „Basisfähigkeiten für das Lernen“? Dann ist unser Workshop „Das Haus der Schulfähigkeit“ vielleicht das Richtige für dich. Darin stellen wir dir nicht nur wichtige Basisfähigkeiten für das Lernen vor, sondern geben dir auch jede Menge Tipps, wie du sie spielerisch und in den Alltag integriert fördern kannst UND wie du auch die Eltern in die Unterstützung einbeziehst. Für mehr Infos klicke hier.
Das Webinar dauert 90 min und kostet kein Geld. Du erhältst außerdem ein Mini-Workbook per Email und eine Teilnahmebescheinigung.
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