Was kannst du tun, um Kinder auf das lange Sitzen in der Schule vorzubereiten?
Lernen Kinder „Sitzen“ durch sitzen?
In diesem Blogartikel erfährst du, worauf es ankommt, damit ein Kind ausdauernd sitzen kann und wie du die Kinder schon in der Kita stärken kannst und das – kleiner Spoiler! – ohne mit den Kindern sitzen zu „üben“.
Na, ist dir diese Frage im letzten Kitajahr auch schon begegnet?
Gerade im Vorschuljahr wächst bei vielen Eltern die Sorge, dass es ihrem Kind in der Schule schwer fallen könnte, für längere Zeit ruhig auf dem Stuhl sitzen zu bleiben.
Zwar versuchen viele Lehrer*innen, den Unterricht in den ersten Schuljahren möglichst so zu gestalten, dass die Kinder sich auch immer wieder mal bewegen können. Trotzdem findet das Lernen noch immer überwiegend am Tisch und auf dem Stuhl sitzend statt.
Da ist der Wunsch der Eltern, dass wir die Vorschulkinder in der Kita auf diese neue Situation „vorbereiten“, dass sie schon mal „sitzen üben“ ja eigentlich auch verständlich…
Aber lernen Kinder „Stillsitzen“ durch still sitzen?
Dazu lohnt es sich, das Sitzen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Auch wenn es nach außen ganz „einfach“ aussieht – Sitzen ist harte Arbeitt!
Denn beim Sitzen müssen wir es zuerst einmal schaffen unseren Rumpf, unter Einwirkung der Schwerkraft, aufzurichten.
Dafür ist die oberflächliche Rücken- und Bauchmuskulatur zuständig.
Um aber auch aufrecht zu bleiben, muss es uns gelingen unseren Körperschwerpunkt dauerhaft zu halten. Und dafür müssen wir unsere Gelenke permanent und mit Hilfe von tiefer liegenden, kleinen Muskeln durch feinste Bewegungen rund um den Körperschwerpunkt stabilisieren.
Das heißt, unser Körper ist auch beim Sitzen keineswegs in Ruhe, sondern ständig in Bewegung!
Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass das Sitzen die „Königsdisziplin der Bewegung“ ist.
Um sitzen zu können, brauchen wir also eine starke Muskulatur – sowohl unter der Oberfläche, als auch in den tieferen Schichten unseres Körpers.
Sie ist die Grundlage dafür, dass wir die für’s Sitzen benötigte Körperspannung – den Tonus – aufbauen können.
Und wie bauen wir Muskulatur am besten auf? Na?
Durch Bewegung! Babys machen uns das vor:
In den ersten Lebensmonaten ist ihre Muskulatur noch nicht stark genug, um zu sitzen. (Darum würden wir auch nicht auf die Idee kommen, ein zwei Monate altes Baby hinzusetzen, damit es „sitzen übt“. )
Um seine Muskeln zu kräftigen beginnt das Baby schon bald mit einem richtigen „Trainingsprogramm“. Auf dem Rücken liegend versucht es seine Beine an sich ranzuziehen, dreht den Kopf, strampelt mit den Beinen,…
Liegt es auf dem Bauch, versucht es erst seinen Kopf zu heben, bald auch die Arme und Beine – das ist richtig anstrengendes Muskeltraining! (Probier diese „Fliegerhaltung“ doch mal aus, dann weißt du schon nach 20 Sekunden, was ich meine).
Mit der Zeit schafft das Baby es auch, sich auf seinen Unterarmen abzustützen und seinen Rumpf hochzudrücken. Und sich vom Rücken auf den Bauch und wieder zurück zu drehen.
Und irgendwann, nach einem ausdauernden Krafttraining, gelingt es ihm endlich, die Schwerkraft zu bezwingen, sich über die Seite aufzurichten, und jeden einzelnen Wirbel der Wirbelsäule auszubalancieren bis es schließlich aufrecht sitzt. Wow!
Ohne das vorangegangene Sportprogramm wäre das nicht möglich!
Doch kräftige Muskeln allein reichen nicht aus, damit ein Kind sich ausdauernd aufrecht auf dem Stuhl halten kann.
Auch eine gute Eigenwahrnehmung ist nötig!
Denn – ganz wichtig! – um die benötigte Körperspannung aufzubauen, also Muskeln ansteuern zu können, brauchen wir Informationen aus unseren drei basalen Wahrnehmungssystemen, den sogenannten sensomotorischen Basissinnen: dem Gleichgewichtssystem, dem taktilen System (also der Berührungswahrnehmung) und dem propriozeptiven System (der Tiefensensibilität).
Diese drei Wahrnehmungssysteme informieren uns ständig darüber, wie unser Körper im Raum verfasst ist.
Unser Gleichgewichtssinn gibt uns beim Sitzen z.B. Informationen darüber, ob bzw. wie unser Kopf geneigt ist.
Über das taktile System können wir spüren, wie unser Po und unsere Oberschenkel den Stuhl berühren, wie die Sitzfläche geformt ist und wie sich ihre Oberfläche anfühlt.
Das propriozeptive System erhält Informationen durch Sinnesrezeptoren, die sich an unseren Muskeln, Gelenken und Knochen befinden (also in den tieferen Schichten unseres Körpers, darum der Begriff „Tiefensensibilität“).
So können wir z.B. über den Druck auf unsere Po- und Oberschenkelmuskeln spüren, wie tief wir in den Sitz einsinken. Rezeptoren an den Gelenken informieren uns darüber, wie unser Becken gekippt ist, wie die einzelnen Wirbel unserer Wirbelsäule zueinander stehen oder wie unsere Oberschenkel- und Kniegelenke gebeugt sind. Auch wie unsere einzelnen Muskeln angespannt sind spüren wir über die Tiefensensibilität.
Unsere Basissysteme sind also die Grundlage für unsere Eigenwahrnehmung. Sie informieren uns permanent über den Ist-Zustand unseres Körpers.
Damit sind unsere sensomotorischen Basissysteme gleichzeitig auch dafür verantwortlich, dass wir unsere Haltung verändern können (im Wort „Sensomotorik“ steckt auch beides drin: sensus = spüren und motorik = Bewegung).
Denn ohne klare Informationen aus dem Gleichgewichtssystem, der taktilen Wahrnehmung und der Tiefensensibilität könnten wir unseren Körper nicht gut ansteuern. Das gilt für „große“ Bewegungen genauso wie für „kleine“ Bewegungen, wie wir sie beim Sitzen ausführen.
Ich geb dir mal ein Beispiel:
Bestimmt kennst auch du ein Kind, dass dir in seinen Bewegungen „ungeschickt“ oder „tollpatschig“ erscheint: Es stößt immer wieder an Tische, Stühle, Türrahmen an, stößt mit anderen zusammen, wirft oft versehentlich Sachen um,… . Es hat Schwierigkeiten in der Bewegungsplanung und Koordination.
Die Ursache dafür liegt ziemlich wahrscheinlich in seiner Eigenwahrnehmung!
Das Kind spürt sich nicht so gut. Die Informationen aus einem oder vielleicht sogar mehreren der drei sensomotorischen Wahrnehmungssysteme können offenbar nicht so gut verarbeitet werden. Und infolgedessen hat das Kind Schwierigkeiten damit seinen Körper zu steuern.
Nun stell dir mal vor, wie schwierig es für ein solches Kind ist noch viel feinere Bewegungen auszuführen, z.B. Perlen auf eine Schnur zu fädeln, einen Stift über‘s Papier zu führen,… oder eben zu sitzen.
Eine gute Eigenwahrnehmung ist also eine ganz entscheidende Voraussetzung für das Sitzen!
Und wie lässt sich die Eigenwahrnehmung fördern?
Natürlich mit Bewegung!!!
Denn in Bewegung erhalten unsere drei basalen Wahrnehmungssysteme ganz viel Input!
Das ist übrigens auch der Grund, weshalb Kinder, die sich nicht so gut spüren, häufig so viel „zappeln“.
Ich geb dir mal noch ein Beispiel:
Auch ein solches Kind hast du bestimmt vor Augen: ständig in Bewegung, wie rastlos, kann kaum mal für einen Moment in seinen Bewegungen inne halten, rutscht auf dem Stuhl z.B. ständig hin und her, ändert immer wieder seine Sitzposition,…
Doch was auf den ersten Blick vielleicht als Unfähigkeit des Kindes wahrgenommen wird still zu halten und was in Gruppensituationen „störend“ sein kann, ist eigentlich eine ziemlich schlaue (wenn auch unbewusste) Kompensationsstrategie des Kindes!
Es holt sich über seine Bewegung einen stärkeren Input für seine Basissinne!
Seine Reizschwelle ist einfach viel „höher“ – um sich genügend zu spüren braucht es deutlichere, stärkere Impulse auf seine basalen Wahrnehmungssysteme.
In der Ruhe fühlt es sich dagegen wie verloren.
Wie ein Astronaut, eingepackt in einen dicken Astronautenanzug, schwerelos schwebend in einem grenzenlosen Raum, ohne spürbare Rückmeldungen auf seinen Körper.
Um sich besser spüren zu können, muss sich das Kind einfach bewegen!
BEWEGUNG ist also der Schlüssel für eine gute Eigenwahrnehmung!
Denn beim Rennen, Springen, Klettern, Schaukeln, Raufen,… gibt es eine wahre Flut an Reizen, die von unseren sensomotorischen Basissinnen aufgenommen und verarbeitet werden müssen.
Und das trainiert die Wahrnehmungssysteme!
Und stärkt damit die Eigenwahrnehmung!
UND legt so die Grundlage für Koordination und Tonusaufbau!
Das heißt also:
Wie die Babys brauchen auch größere Kinder ein „Trainingsprogramm“, bevor sie ausdauernd sitzen können. Und dieses Fitnesstraining suchen sie sich in der Regel ganz von selbst!
Sie haben ein ganz natürliches und für ihre Entwicklung wichtiges Bewegungsbedürfnis.
Und das sollten wir darum und nach allem, was wir nun wissen, nicht unterdrücken, sondern fördern!
Ich fasse mal für dich zusammen und hoffe, das wird dein 1. Takeaway aus diesem Blogartikel (du kannst es dir z.B. auf einen Klebzettel schreiben und dir an den Kühlschrank pinnen):
„Stillsitzen“ lernen Kinder nicht durch still sitzen!
Im Gegenteil!
Denn (hier kommt dein 2. Takeaway):
Kinder brauchen viel Bewegung, damit die basalen Wahrnehmungssysteme sich gut entwickeln können.
Denn nur wenn die neuronalen Netzwerke im Gehirn gut ausgebaut sind, können Kinder die eingehenden Reize gut verarbeiten. Und so die für’s Sitzen notwendige gute Eigenwahrnehmung aufbauen und all die vielen Muskeln ansteuern, die nötig sind, um sich auch für längere Zeit aufrecht auf einem Stuhl halten zu können.
Und falls du jetzt denkst oder Eltern/Kolleg*innen/eine Leitung hast, die dir sagen, es wäre aber vielleicht doch schon wichtig, dass Kinder sich schon einmal an das Sitzen auf dem Stuhl und am Tisch gewöhnen:
Es gibt in der Kita auch ohne eine Vorschulstunde am Tisch und auf dem Stuhl genügend Situationen, in denen die Kinder mal für eine längere Zeit auf dem Stuhl sitzen müssen (beim Essen z.B.).
Ebenso in der Familie. Wir müssen also nicht künstlich noch mehr Situationen schaffen, um mit den Vorschulkindern langes Sitzen zu „üben“.
Viel wichtiger ist es, dass die Kinder viele Bewegungsangebote erhalten, um eine gute Eigenwahrnehmung zu entwickeln und um Muskelaufbau und Tonus zu stärken!
Falls deine Leitung, deine Kolleg*innen oder auch du selbst noch immer nicht ganz zufrieden bist, leg ich noch ein Argument oben drauf und hol mir dazu die Autorität der Wissenschaft an die Seite:
Immer wieder weisen wissenschaftliche Studien nach, dass sich die Kinder der heutigen Generationen viel zu wenig bewegen!
Im Rahmen der KiGGs-Studie des Robert-Koch-Instituts wurde z.B. für den Zeitraum 2014-2017 ermittelt, dass fast die Hälfte der 3-6-Jährigen (42,5 % der Mädchen und 48,9 % der Jungen) nicht auf die von der WHO empfohlene tägliche Mindestbewegungszeit von 60 min (was ja schon echt wenig ist…) kommt!1
Das muss man sich mal vorstellen! Und das hat Folgen (und zwar nicht nur gesundheitliche, wie z.B. Übergewicht):
In Berlin wurden die Koordinationsfähigkeiten von Vorschulkindern bei den Einschulungsuntersuchungen im Jahr 2017 bei 28,8 % der Kinder als auffällig oder grenzwertig eingestuft!2
Darum:
Bring die Kinder in Bewegung!
Denn damit förderst du nicht nur ihre Gesundheit und die Entwicklung wichtiger Basisfähigkeiten wie Eigenwahrnehmung, Koordination, Kraftdosierung, Raumorientierung u.v.m.
Sondern du bereitest die Kinder damit auch bestmöglich auf das Sitzen in der Schule vor!
Quellen:
1 Vgl. https://mobild.hypotheses.org/170
2 Vgl. https://www.berlin.de/sen/gesundheit/_assets/service/publikationen/gesundheitsberichterstattung/veroeffentlichungen/grundauswertungen/2019-11-07-grundauswertung_esu_2017_bf.pdf
Falls du nach diesem laaaaaaangen Blogartikel noch immer nicht genug hast (toll, dass du bis zum Schluss durchgehalten hast!), sind hier 3 Möglichkeiten, wie es weitergehen kann:
Wir haben eine ganze Podcast-Folge zu diesem Thema aufgenommen. Du findest sie als Folge #28 unter dem Stichwort „Piratenreise“ bei Spotify & Co.
Oder hier auf unserer Website unter diesem Link (klicke hier).
Und noch mehr Input zum Thema Lernen in Bewegung und Vorschule abseits von „sitzen üben“ bekommst du in unserem Webinar „Wie du die Kinder auf die Schule vorbereitest, ohne stapelweise Vorschulhefte durcharbeiten zu müssen“ (Kosten: 0,- Euro und 90 min deiner Zeit). Mehr Infos und die Termine findest du hier (klicke hier).
Du möchtest tiefer einsteigen in das Thema „Basisfähigkeiten für das Lernen“? Dann ist unser Workshop „Das Haus der Schulfähigkeit“ vielleicht das Richtige für dich.
Darin stellen wir dir nicht nur wichtige Basisfähigkeiten für das Lernen vor, sondern geben dir auch jede Menge Tipps, wie du sie spielerisch und in den Alltag integriert fördern kannst UND wie du auch die Eltern in die Unterstützung einbeziehst. Für mehr Infos klicke hier.
Das Webinar dauert 90 min und kostet kein Geld. Du erhältst außerdem ein Mini-Workbook per Email und eine Teilnahmebescheinigung.
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